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Rommé, Oliver, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, 1989, Cologne, Berlin, Bonn, Munich. (Prütting, Prozeßrechtliche Abhandlungen, Volume 71)

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Rommé, Oliver, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, 1989, Cologne, Berlin, Bonn, Munich. (Prütting, Prozeßrechtliche Abhandlungen, Volume 71)
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2. Kapitel: Die prozessuale Sachverhaltsfeststellung

§ 11 Anscheinsbeweis und Beweismaß

IV. Die Einordnung des Zweifels

2. Anscheinsbeweis

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Die Zweifel, die bei der Anwendung statistischer Erfahrungssätze (und damit des Anscheinsbeweises) verbleiben, sind demgegenüber gänzlich anderer Natur. Bedingt durch die Struktur der durch Induktion gebildeten Erfahrungssätze und der durch sie ermöglichten Schlußfolgerung findet sich eine Sachverhaltsfeststellung mittels Anscheinsbeweises nicht in der gleichen »Nähe zum Fall«, wie sie das oben beschriebene Vollbeweisverfahren gewährleistet. Aufgrund der mangelnden Verbindung zum Einzelfall488 lassen sich daher Zweifel nicht mit der Bestimmtheit des Vollbeweisverfahrens ausräumen. Weiterhin sind diese Zweifel aufgrund der Eigenart des Schlußverfahrens mit statistischen Erfahrungssätzen nicht lediglich als abstrakte zu werten: Während beim (gelungenen) Vollbeweis eine Alternative zur getroffenen Sachverhaltsfeststellung nicht ersichtlich ist, zeichnet sich die durch Anscheinsbeweis festgestellte Tatsache dadurch aus, daß abweichende Alternativen nicht nur denkbar sind, sondern aktuell in einem Sinne bestehen, daß sich anstelle der als bewiesen angesehenen Tatsache auch jene Alternative verwirklicht haben könnte489. Dieser Ambivalenz der Sachverhaltsfeststellung ist bei der Verwendung statistischer Erfahrungssätze nicht zu entkommen. Denn sie sind immer durch eine heterogene Gruppe von Fällen gebildet, von denen nur ein Teil die aktuell zur Entscheidungsfindung benötigte Tatsachenverknüpfung aufweist (sonst läge ein deterministischer Erfahrungssatz vor), und die den gegenwärtig zu beurteilenden Fall nicht umfaßt. Darüber hinaus informiert der Erfahrungssatz nicht darüber, ob der im Augenblick betrachtete Fall gerade zu denjenigen gehört, die die benötigte Tatsachenverknüpfung besitzen oder ob er eine Ausprägung der ebenfalls in den angewandten Erfahrungssatz eingegangenen Beobachtungen darstellt, denen diese Verknüpfung fehlt.

All dies ist eine Folge der bereits eingehend erörterten Leistungsfähigkeit statistischer Erfahrungssätze, die sich »lediglich« zur Herbeiführung einer rationalen Entscheidung eignen, nicht dagegen für einen Einzelfallschluß. Im Gegensatz zum Vollbeweisverfahren bleibt also dem Rechtsanwender stets im Bewußtsein, daß es aktuell eine konkurrierende Alternative zu der von ihm festgestellten Tatsache gibt. Aktuell deshalb, weil die Arbeit mit statistischen Erfahrungssätzen kein Verfahren bereitstellt, jene widersprechenden Alternativen für den Einzelfall voneinander zu sondern. Dies ist ein 131 handgreiflicher Unterschied gegenüber dem Vollbeweis, bei dem - es sei nochmals betont - für den Richter im Einzelfall eine solche abweichende Alternative nicht existiert.

Diese durch die Anwendung statistischer Erfahrungssätze bedingte Eigentümlichkeit bleibt im Prozeß nur deshalb handhabbar, weil die der getroffenen Sachverhaltsfeststellung zuwiderlaufende Alternative dem Gegenbeweis anheimgestellt wird490. Doch muß man sich darüber im klaren sein, daß dieser Kunstgriff an der soeben beschriebenen Arbeitsweise des Anscheinsbeweises nichts ändert, die Existenz der konkurrierenden Möglichkeit also unberührt läßt. Weiterhin darf nicht aus den Augen verloren werden, daß sich die Partei, die sich gegen einen Anscheinsbeweis zu verteidigen hat, mit z.T. absurden und unmöglich zu erfüllenden Beweisanforderungen konfrontiert sieht. Schon daraus erhellt, daß das Gegenbeweisverfahren nicht dazu dienen kann, die Sachverhaltsfeststellung mittels statistischer Erfahrungssätze eindeutiger zu gestalten. Denn wenn er gelingt, ist der betreffende Erfahrungssatz ausgeräumt, für die Sachverhaltsfeststellung im konkreten Fall also nicht mehr verwertbar. Wenn er hingegen mißlingt, bleibt die alte Unklarheit bestehen.

Schulbeispiel für diese Gegebenheiten ist der Luesfall I491. Hier wurde dem beklagten Land als Krankenhausträger ein Gegenbeweis angesonnen, der nur bei Kenntnis des Sexualverhaltens der Ehefrau des Klägers hätte geführt werden können. Unnötig zu sagen, daß sich die Beklagte dazu außerstande sah und daß für den BGH daher konkurrierende Alternativen nicht ersichtlich waren492. Das darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die getroffene Feststellung nicht sicherer wurde. Der vom BGH herangezogene Erfahrungssatz umfaßt sowohl Ansteckungen aufgrund von Transfusionen als auch aufgrund von (außerehelichem) Geschlechtsverkehr. Dieser aktuell zur Feststellung »Ansteckung durch Infusion« herangezogene Erfahrungssatz befähigt aber nicht deshalb zu eindeutiger Stellungnahme, weil die Alternative »Ansteckung durch (außerehelichen) Geschlechtsverkehr« dem Gegenbeweis überantwortet wird und dieser gar nicht erst angetreten werden kann. Die getroffene Feststellung bleibt hiermit so ambivalent wie ehedem493.

132An diesem objektiven Befund ändert sich auch durch das von der h. M. vertretene Erfordernis der »Überzeugung von der Wahrheit« nichts, da auch die stärkste (subjektive) Überzeugung kein taugliches Mittel darstellt, die durch die Anwendung statistischer Erfahrungssätze in die Sachverhaltsfeststellung hineingetragene Zweideutigkeit zu steuern.

Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß die Anwendung statistischer Erfahrungssätze beim Rechtsanwender eine andere Art Zweifel hinterläßt als diejenige, die beim Vollbeweis festgestellt werden kann. Diese Zweifel drücken sich in dem Bewußtsein aus, daß nicht nur theoretisch, sondern aktuell eine der getroffenen Sachverhaltsfeststellung zuwiderlaufende Sachverhaltsvariante existiert. Dieser Zweifel wird durch die Anwendung eines statistischen Erfahrungssatzes nicht nur nicht beseitigt, er ist vielmehr der Grund seiner Entstehung.

V. Folgerungen

1. Herrschende Meinung

Wenn man - wie die h. M. - der richterlichen Überzeugung494 Beweismaßfunktion zumißt, folgt aus den obigen Darlegungen, daß der Anscheinsbeweis das Beweismaß notwendig senkt, d. h. unabhängig von Beweisthema und materiellrechtlichen Einflüssen. Denn die gleiche Abwesenheit von Zweifeln (und damit die gleiche Stärke der Überzeugung) wie beim Vollbeweis, der das Regelbeweismaß definiert, ist beim Anscheinsbeweis nicht zu erreichen. Die gezeigten Unterschiede zwischen beiden Beweisarten hätten nur dann keinen Belang, wenn die erzielten Ergebnisse gleichwohl identisch wären oder es sich rechtfertigen ließe, sie jedenfalls im Hinblick auf Beweismaß und Beweiswürdigung zu vernachlässigen.

Wie die bisherigen Erörterungen gezeigt haben, kann von einer Identität der Ergebnisse nicht gesprochen werden. Es ist jedoch zuzugeben, daß ein Hindernis existiert, das die Sicht auf diese Gegenheiten u. U. versperrt. Dieses besteht in der Tatsache, daß verbal, in der sprachlichen Formulierung der Beweiswürdigung, eine Divergenz zwischen Feststellungen, die sich auf einen Vollbeweis stützen und solchen, die einen Anscheinsbeweis heranziehen, nicht ausgemacht werden kann. Beide Male ist das Gericht nämlich davon »überzeugt«, daß sich der Sachverhalt in einer bestimmten Art darstellt. Es darf jedoch nicht der Weg außer acht gelassen werden, auf dem zur jeweiligen Feststellung gelangt wird. Denn ihre Qualität hängt ab von ihren Grundlagen, von den Informationen, auf die man sich gestützt hat, um sie zu treffen. Richtet man mit den obigen Ausführungen den Blick auf133 diese, so ergibt sich, daß die Grundlagen beider Beweisarten nicht die gleichen Eigenschaften aufweisen. Folglich muß es sich bei der »Überzeugung« aufgrund Vollbeweises um etwas anderes handeln als bei der »Überzeugung« aufgrund Anscheinsbeweises; denn die Eigenschaften der Mittel bedingen zugleich die Stellungnahme zum Beweisergebnis, die unter ihrer Zuhilfenahme gebildet wurde.

Die Frage, ob es gerechtfertigt ist, die gezeigten Unterschiede für Beweismaß und Beweiswürdigung zu vernachlässigen, ist weit schwieriger zu beantworten. Letzlich handelt es sich dabei um das Problem, ob sich die abstrakten Zweifel, die den Vollbeweis nicht hindern, nennenswert von dem Maß an Unsicherheit unterschieden, das beim Anscheinsbeweis verbleibt. Die typischen Fälle des Anscheinsbeweises lassen sich grundsätzlich durch die Verwendung eines Erfahrungsssatzes der Gestalt

P (G,F) = r

kennzeichnen495. Hat dieser Erfahrungssatz etwa die Gestalt

p (Gx,Fx) = 0,9,

dann handelt es sich um das Problem, ob die »Unsicherheit von 0,1« gegenüber dem abstrakten, beim Vollbeweis verbleibenden Zweifel vernachlässigt werden kann.

Nach der hier vertretenen Ansicht ist es nur dann gerechtfertigt, die Unterschiede zwischen Anscheinsbeweis und Vollbeweis unbeachtet zu lassen, wenn sie sich als lediglich graduelle Abweichungen darstellen, die sich auf einen gemeinsamen Kern zurückführen lassen. Wenn es sich dagegen um qualitative Unterschiede handelt, verbietet sich ein solches Vorgehen, da sich in diesem Falle eine Gemeinsamkeit zwischen den Resultaten des Vollbeweises und denjenigen des Anscheinsbeweises nicht finden läßt.

Nun haben die obigen Erörterungen zur Genüge belegt, daß sich in der Gestalt von Vollbeweis und Anscheinsbeweis Instrumente gegenüberstehen, die zwar zur Erreichung des gleichen Zieles, nämlich der prozessualen Sachverhaltsfeststellung, genutzt werden, jedoch in der Erkenntnis, die sie vermitteln, grundlegend differieren. Diese Einsicht wird verstärkt, wenn man sich in aller Kürze nochmals die Charakteristik statistischer Erfahrungssätze vergegenwärtigt: Zieht man den obigen Erfahrungssatz zur Sachverhaltsfeststellung heran, so heißt dies, daß man sehenden Auges in 100 Fällen, in denen er zur Sachverhaltsfeststellung herangezogen wird, 10 Fehlurteile in Kauf nimmt. Selbst wenn der Zusammenhang zwischen »G« und »F« 0,99 betrüge, führt dies noch immer zu einem Fehlurteil in 100 Fällen. Man mag einwenden, daß dies eine denkbar geringe Quote sei, die im Interesse der Arbeitsfähigkeit der Gerichte hingenommen werden müsse. Darum geht es134 hier jedoch nicht. Es handelt sich vielmehr um die Förderung der Einsicht, daß bei Anwendung des Vollbeweises eine vergleichbare Sachlage nicht besteht, sondern man hier wieder lediglich auf die abstrakte Überlegung zurückgreifen kann, daß menschliches Erkennen immer irgendwie fehlgehen könnte. Ein derartiges Fehlgehen ist für den konkreten Fall jedoch nicht ersichtlich, wohingegen es bei der Anwendung statistischer Erfahrungssätze gleichsam a priori in die jeweilige Sachverhaltsfeststellung integriert wird. Aus diesen Gründen verbietet sich eine Gleichbehandlung von Vollbeweis und Anscheinsbeweis im Hinblick auf Beweismaß und Beweiswürdigung.

Die Beobachtung, daß in der Rechtsprechung kaum je Erfahrungssätze herangezogen werden, die die Gestalt p (G,F) = r aufweisen, bedeutet nicht, daß deshalb etwas anderes gelte. Jedweder statistische Erfahrungssatz (so es sich überhaupt um einen solchen handelt, was bei den in der Rechtsprechung verwandten Sätzen trotz gegenteiliger Beteuerungen mitunter zweifelhaft sein kann496) besitzt die dargestellte Form. Daß sie in der Rechtsprechung selten dargestellt wird, liegt einerseits daran, daß sie Assoziationen zu einer »Wahrscheinlichkeitsjudikatur« zu vermeiden sucht, und andererseits daran, daß in aller Regel das empirische Material fehlt, um jene Form auszufüllen. Das ändert an der oben dargestellten Sachlage jedoch nichts, sondern führt lediglich dazu, daß für den gerade herangezogenen Erfahrungssatz das Verhältnis der Fehlurteile zur Anzahl der bearbeiteten Rechtsstreitigkeiten unbekannt bleibt. An dem tatsächlichen Bestehen dieses Faktums ändert sich dadurch natürlich nichts.

Als Ergebnis läßt sich daher festhalten, daß der Anscheinsbeweis das Beweismaß senkt, wenn man der Betrachtung die h. M. zugrundelegt. Weiterhin ist hervorzuheben, daß diese Beweismaßsenkung notwendige Folge der Anwendung des Anscheinsbeweises ist.

[...]

3. Kapitel: Benachbarte Erscheinungen

§ 13 Anscheinsbeweis und Beweislast

V. Zusammenfassung

167

Die vorstehende Untersuchung hat ergeben, daß der Anscheinsbeweis durch seinen Einfluß auf Sachverhaltserfassung und Beweiswürdigung das Risiko der Nichterweislichkeit einer Tatsachenbehauptung vermindert. Diese Risikoverminderung wird durch das Gegenbeweisverfahren bewerkstelligt, womit gleichzeitig deutlich wird, daß sie sich auf die objektive Beweislast nicht auswirkt. Durch die Anwendung des Gegenbeweisverfahrens gelingt es, den vom Kläger vorzutragenden und zu beweisenden Sachverhalt in typische und untypische (bzw. dem Tatbestand des Erfahrungssatzes entsprechende oder nicht entsprechende) Bestandteile zu zerlegen; dies hat zur Folge, daß etwaige Unklarheiten, die der Klägervortrag hinterläßt, und die sich auf die als untypisch qualifizierten Sachverhaltsbestandteile beziehen, nicht zum Nachteil des Klägers berücksichtigt werden. Zu diesem Ergebnis trägt die durch den Anscheinsbeweis beeinflußte Sachverhaltserfassung ebenso bei wie die ebenfalls durch ihn bestimmte Beweiswürdigung. Die solcherart vorgenommene Risikoentlastung auf der Klägerseite ist nicht als168 Beweislastumkehr zu begreifen, denn der Beklagte ist lediglich gehalten, einen Gegenbeweis anzutreten. Man sieht also, daß die oben576 angestellte theoretische Betrachtung über den Zusammenhang zwischen Anscheinsbeweis und Beweislast auch für die Praxis Gültigkeit besitzt. Die gegenteilige Stellungnahme des BGH577 verwechselt die durch den Anscheinsbeweis eingeschränkte Substantiierungspflicht mit der objektiven Behauptungs- und damit auch Beweislast578. Eine ausreichende (wenn auch eingeschränkte) Substantiierung bleibt für die Beweislast indessen ohne Einfluß.

488Dazu oben, S. 27 f.
489Unrichtig deshalb BGH NJW-RR 1986, 323 (324), wo der Anscheinsbeweis dadurch gekennzeichnet wird, daß er die rein theoretische Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs offenlasse; zutreffend dagegen BGH MDR 1964, 314 (315): Es liege im Wesen des Anscheinsbeweises, daß er den Hergang nicht mit derselben Ausschließlichkeit festzulegen vermöge wie der strikte Beweis.
490Ebenso Motsch, Beweis, 23; s. dazu auch Rosenberg, Beweislast, 181.
491BGHZ 11, 227; dazu oben, S. 20 ff., 79 ff..
492BGH, a.a.O., 231: »Tatsachen in dieser Richtung sind aber von dem beklagten Land nicht vorgetragen, viel weniger unter Beweis gestellt worden«; vgl. dazu die treffende Polemik von Kollhosser, AcP 165 (1965), 46 (77, Fn. 88).
493Dies ist keine außerprozessuale Betrachtungsweise (s. oben, S. 72 f., 77), da die dem Gegenbeweis anheimgegebene Alternative durch die Nutzung des statistischen Erfahrungssatzes in den Prozeß eingeführt wurde.
494Also der Zweifelsüberwindung des Richters in dem Sinne, daß er den festgestellten Sachverhalt als den wirklich geschehenen ansieht.
495Vgl. oben, S. 16.
496Vgl. etwa den von Greger, VersR 1980, 1091 (1099, Fn. 218), mitgeteilten »Erfahrungssatz« des AG München, nach dem ein im Münchener Stadtverkehr erfahrener Taxifahrer nicht gegen ein stehendes Kraftfahrzeug fährt; s. auch den von Walter, ZZP 90 (1977), 270 (280 mit Fn. 66), aufgegriffenen »Erfahrungssatz« des OLG Bamberg, wonach eine Braut im Zeitpunkt des Verlöbnisses unbescholten ist.
576Siehe S. 153 f.
577Vgl. oben, S. 150 f.
578Dazu Prütting, Beweislast, 110.

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