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Richter, Marc Robert, Standby Letter of Credit - Eine systematische Darstellung unter besonderer Berücksichtigung des US-amerikanischen Rechts, Zurich 1989
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Die "règle d'or" und wesentlichstes Strukturmerkmal des Standby L/C stellt seine Abstraktheit dar. Dieser Grundsatz bedeutet, dass — wie beim Dokumenten-Akkreditiv oder bei der unbedingten Bankgarantie— mit der Stellung eines Standby L/C der Zahlungsanspruch des Begünstigten unabhängig von zugrunde liegenden Verträgen besteht. Allein die Einreichung der vereinbarten Dokumente soll die Leistungspflicht der Bank auslesen. In dieser Unabhangigkeit beruht die 122
"Vitalität" dieser Sicherungsgeschäfte, und es ist diese Eigenschaft, welche den Standby L/C für den Begünstigten und die involvierten Banken im Vergleich zu akzessorischen Sicherungen (z.B. der Bürgschaft) so attraktiv macht.Die Abstraktheit des Standby L/C-Vertrages bezieht sich in erster Linie auf seine Unabhängigkeit vom Valutaverhältnis (Grundvertrag) zwischen Standby L/C-Auftraggeber und dem Begünstigten. So heisst es in Art.3 ERA: "Akkreditive sind ihrer Natur nach von den Kauf- oder anderen Verträgen, auf denen sie beruhen können, getrennte Geschäfte, und die Banken haben in keiner Hinsicht etwas mit solchen Verträgen zu tun und sind nicht durch sie gebunden... ". Die Bank ist folglich grundsätzlich auch dann zur Zahlung verpflichtet, wenn der Auftraggeber wegen Mängeln im Grundverhältnis vom Begünstigten die Nichtinanspruchnahme des Standby L/C verlangen kann.Die Standby L/C-Verpflichtung ist aber auch vom Deckungsverhältnis (Standby L/C-Eröffnungsauftrag) zwischen dem Standby L/C-Auftraggeber und der eröffnenden Bank sowie vom Vertrag zwischen der Erst- und Zweitbank unabhängig: "Ein Begünstigter kann sich in keinem Fall auf die vertraglichen Beziehungen berufen, die zwischen den Banken oder zwischen dem Akkreditivauftraggeber und der eröffnenden Bank bestehen"(Art.6 ERA).Die Trennung von Zahlung aus dem Standby L/C und den ihm zugrundeliegenden Verträgen, insbesondere von der Abwicklung des Grundvertrages, ist das Ergebnis einer kaufmännischen Risikoverteilung, welche die Stärke der jeweiligen Marktstellung der Parteien von Aussenhandelsgeschaften widerspiegelt. Die Wahl des Sicherungsinstruments ist nämlich ebenso das Ergebnis von Vertragsverhandlungen wie die Vereinbarung der Zahlungsbedingungen.123
Artikel 4 der ERA konkretisiert die Selbständigkeit vom Grundgeschäft: "Im Akkreditivgeschäft befassen sich alle Beteiligten mit Dokumenten und nicht mit Waren, Dienstleistungen und/oder anderen Leistungen, auf die sich die Dokumente beziehen können. Das beim Standby L/C abgegebene Leistungsversprechen ist also nur an die im Standby L/C- Vertrag enthaltenen Bedingungen geknüpft; diese beschränken sich auf die Vorlage von Dokumenten.Die Einschränkung der Prüfungspflicht erfolgt unter anderem aus praktischen Gründen. Die Bank vermittelt lediglich die Zahlung zwischen den beiden Grundvertragsparteien und will keinen Einblick in das Grundverhältnis haben. Es fehlen ihr haufig die erforderlichen Sach- und Branchenkenntnisse, um die ausserhalb der Dokumente liegenden Fragen angemessen beurteilen zu können. Schliesslich würden sich die Banken gezwungen sehen, entweder die Kommission zu erhöhen, um die zusätzlich verursachten Kosten zu decken, oder sich von dieser Art Sicherungsgeschäften zurückzuziehen.
Eine notwendige Folge der abstrakten Ausgestaltung des Sicherungsversprechens ist, dass grundsätzlich keine Einreden und Einwendungen aus den dem Standby L/C-Vertrag zugrunde liegenden Verträgen geltend gemacht werden können (sog. materielle Abstraktheit). Dieser Einrede- und Einwendungsausschluss folgt aus dem Sinn und Zweck des Standby L/C, ein einfaches und schnelles Sicherungsmittel zu sein, und liegt sowohl im Interesse des Begünstigten, der seinen Anspruch124nicht gefährdet sehen möchte, als auch der Bank, die nicht in Fragen betreffend dem Grundvertrag gezogen werden will und ihren Zahlungsentscheid nicht durch die Verknüpfung mit dem Grundvertrag erheblich erschwert sehen möchte.
Die schnelle Befriedigung eines eventuellen Zahlungsanspruches erfordert auch, dass allfällige Gerichtsverfahren erst nach der Auszahlung ausgefochten werden. Dies wird vereinfacht mit den Worten "erst zahlen, dann prozessieren" ausgedrückt.Der Auftraggeber hat einen allfälligen Prozess zu initiieren. Die abstrakte Gestaltung des Standby L/C kommt diesem Bedürfnis entgegen und bedeutet stets eine Umkehr der Beweislast, d.h. nicht derjenige, der aus der behaupteten Tatsache ein Recht ableitet, nämlich der Begünstigte, hat den Eintritt des Verpflichtungsgrundes zu beweisen (vgl. Art.8 ZGB), sondern der Schuldner den Nichteintritt der behaupteten Grundvertragsverletzung (sog. Beweisabstraktheit).
Eine weitere Konsequenz der Unabhängigkeit vom Grundvertrag ist, dass die Rechte eines Begünstigten (Hauptschuldners), der von der Bank — durch den Erhalt der Standby L/C-Summe — befriedigt wurde, nicht automatisch auf die Bank übergehen, sondem einer schriftlichen Abtretung gemäss Art.165 OR bedürfen.Ein solcher Eintritt in die Rechtsstellung des Gläubigers (Begünstigten) ist im akzessorisch ausgestalteten Bürgschaftsrecht von Gesetzes wegen (Legalzession) vorgesehen (Art.507 OR).
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Der Standby L/C ist nicht vollständig vom Grundverhältnis losgelöst. Schliesslich liegt sein Zweck in der Sicherung der ordnungsgemässen Erfüillung desselben. Auch ist der sogenannte Verpflichtungs- oder Rechtsgrund (causa) des Standby L/C in diesem Sicherungszweck zu sehen. Dementsprechend muss sich der Begünstigte bereits in seiner Inanspruchnahmeerklärung auf das Grundgeschäft beziehen und zumindest behaupten, dass der Hauptschuldner seinen Verpflichtungen aus dem Grundvertrag nicht nachgekommen ist.Zum Teil wird vereinbart, dass der Begünstigte Dokumente von Dritten beibringen muss (z.B. ein Gutachten oder ein Schiedsgerichtsurteil), welche gewisse Aspekte des Grundvertrages zu prüfen haben. Obwohl diese tatsächliche Beziehung die rechtliche Unabhängigkeit des Standby L/C vom Grundvertrag nicht in Frage stellt, kann die Abgrenzung zu akzessorischen Verpflichtungen schwierig werden.Der nächste Abschnitt ist im Lichte dieser Ausführungen und mit Berücksichtigung rechtsethischer Prinzipien zu verstehen.
Der Grundsatz der Abstraktheit des Standby L/C findet dort seine Grenze, wo die Behauptungen der Inanspruchnahmeerklärung offensichtlich falsch und diese somit rechtsmissbräuchlich ist. In solchen Fällen muss die Bank die Zahlung trotz dem Abruf verweigern. Der Grundsatz der Abstraktheit schliesst demnach Einreden und Einwendungen aus dem Sicherungszweck, d.h. dem Grundvertrag, nicht immer aus; die Abstraktheit der Zahlungspflicht gilt nicht absolut. Die126Grenzziehung zwischen Zahlungspflicht und Zahlungsverweigerungspflicht der Bank ist jedoch äusserst komplex.
Die Unabhängigkeit der Standby L/C-Verpflichtung wird wie gesehen auch in einem weiteren Fall durchbrochen. Sollten sich im Verständnis des Standby L/C-Vertrages Unklarheiten ergeben, so kann der Grundvertrag zur Auslegung und Ergänzung herangezogen werden, könnte doch aus diesem der ursprüngliche wirkliche Parteiwille erkennbar sein.[...]
Referring Principles
Trans-Lex Principle: V.2.6 - Autonomy and strict compliance of letters of credit and bank guarantees