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Schnitzer, Adolf, Handbuch des Internationalen Privatrechts - einschließlich Prozesßrecht, unter besonderer Berücksichtigung der Schweizerischen Gesetzgebung und Rechtsprechung (1957, 1958), Vol. I & II

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Schnitzer, Adolf, Handbuch des Internationalen Privatrechts - einschließlich Prozesßrecht, unter besonderer Berücksichtigung der Schweizerischen Gesetzgebung und Rechtsprechung (1957, 1958), Vol. I & II
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HANDBUCH DES INTERNATIONALEN PRIVATRECHTS

einschließlich Prozeßrecht, unter besonderer Berücksichtigung der Schweizerischen Gesetzgebung und Rechtsprechung

ADOLF F. SCHNITZER

Dr. juris, Dr. ès sciences politiques

Vierte neubearbeitete Auflage

Band 1: : Internationales Privatrecht, Allgemeiner Teil

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Kapitel II: Die Grundlagen des Internationalen Privatrechts

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II. Die Grundsätze der Rechtsanwendung

[...]

6. Die Theorie der Anknüpfungspunkte

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c) Die Theorie des Gesetzes der charakteristischen Leistung 

Die elastische Basis besteht darin, nicht a priori ein bestimmtes Anknüpfungsmoment, z.B. Staatsangehörigkeit oder Wohnsitz oder ein bestimmtes Tatbestandselement, z. B. Abschluß oder Erfüllung, als ausschlaggebend anzusehen, sondern alle Tatbestandselemente und Momente der Anknüpfung festzustellen. Sodann werden wir ausscheiden, was unwesentlich ist, weil es rein zufällig ist. Wir werden sicher nicht, wenn Menschen im Flugzeug mit Hunderten von Kilometern Geschwindigkeit einige tausend Meter hoch über ein Land fliegen, darüber Beweis erheben, über welchem Lande sie sich gerade befunden haben, als eine rechtlich erhebliche Willenserklärung abgegeben wurde, um das Recht dieses Landes heranzuziehen. Wir werden vielmehr die Rechtsnatur des Akts untersuchen. Wir wollen wohl das Wesen des Rechtsverhältnisses erkennen, aber nicht mehr wie Savigny den „Sitz" des Rechtsverhältnisses ermitteln und auch ein unkörperliches Produkt geistigen Schaffens nicht mehr lokalisieren. An Stelle dieser sinnlich greifbaren, äußerlichen Anknüpfung suchen wir vielmehr die sinngemäße Anknüpfung in einem höheren Sinne, den funktionellen Zusammenhang des Tatbestandes mit einem durch eine bestimmte Rechtsordnung geregelten menschlichen Gemeinschaftsleben. Es kommt uns deshalb nicht mehr so sehr darauf an, wo ein Beteiligter sich gerade geographisch befindet. Das ist selbst für ihn mitunter gleichgültig, jedenfalls für eine Sozialwissenschaft, wenn diese Tatsache nicht gleichzeitig einen inneren Zusammenhang kultureller, wirtschaftlicher oder sonstiger Art aufweist.

In meinem Handbuch des Internationalen Handels-, Wechsel-und Checkrechts ist versucht, diese Beziehung für das engere Gebiet der Handelsobligationen darzulegen (bes. S. 211 ff., 230 ff., 280 ff.). Das gleiche ist für die Vertragsobligationen im allgemeinen in der Studie über die Parteiautonomie angestrebt (SJZ Bd. 35, 1938/39, 305 ff., 323 ff.). Man darf nicht von außen her ein System an die Prüfung des Tatbestandes herantragen, sondern muß von innen heraus das „Eigengesetz", die dem Wesen des Rechtsverhältnisses adäquate Norm finden. Der Kern eines Komplexes, der rechtlich zu würdigen ist, liegt nicht im Zufälligen, nicht im Äußerlichen, sondern in dem, was für ihn typisch ist. So ist z. B. für eine Handelsobligation kennzeichnend, daß

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eine Tätigkeit des Handels ausgeübt wird. Kriterium des Handels ist, wie uns der Nationalökonom sagt, die Bereitstellung eines Gutes zur Befriedigung eines Bedürfnisses und die Ausübung der dazu nötigen Nebentätigkeiten, Heranbringung des Guts (Transport), Lagerung, Versicherung usw. Die typische Leistung ist also der Verkauf, der Transport, die Lagerung, die Versicherung. Sie bleibt unveränderlich Kern des Rechtsverhältnisses, mag das einzelne Rechtsgeschäft hier oder dort abgeschlossen, hier oder dort zu erfüllen sein, mag die Nationalität und der Wohnsitz des Kunden verschieden sein. Das Rechtsverhältnis gehört daher funktionell in den Lebenskreis der gewerblichen Niederlassung, durch die die mit dem Wesen des Handels am engsten verbundene Leistung übernommen wird. Das Recht des Orts der gewerblichen Niederlassung des Verkäufers, des Transporteurs, Einlagerers, der Versicherungsgesellschaft ist also anzuwenden.

Die Skala der Bewertung der Anknüpfungspunkte kann nicht aus dem Völkerrecht entnommen werden, auch nicht aus einem — nicht existierenden — allgemeinverbindlichen internationalen Recht privatrechtlicher Tatbestände. Sie wird auch nicht a priori von einem Einheitssystem vorgeschrieben. Vielmehr ist jeder internationale Tatbestand rechtlich zu konkretisieren und nach seinem charakteristischen Inhalt einer bestimmten Rechtsordnung zuzuordnen. Damit wird die Regelung des IPR einer Lösung entgegengeführt, die elastisch genug ist, um der Vielfältigkeit der Rechtswirklichkeit zu entsprechen, und die gleichzeitig auf Grundsätzen beruht, die dem zu ordnenden Lebensverhältnis immanent sind. Sicherlich wird damit keine absolut einheitliche Regelung im gesamten IPR erzielt. Denn es wird Rechtsverhältnisse gehen, bei denen die verschiedenen Rechtsordnungen eine verschiedene Auffassung über den wesentlichen Zusammenhang haben. Tritt in solchen Fällen eine subjektiv verschiedene Bewertung ein, so beruht dies auf objektiven Gründen in der historischen Entwicklung, Verschiedenheit der kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse. In solchen Fällen ist die verschiedene Bewertung unserer Ansicht nach auch gerechtfertigt. Denn wir wollen ja keine abstrakten Regelungen treffen, sondern die konkreten Lebensverhältnisse adäquat und damit richtig ordnen. Aber auf weiten Strecken des Rechts, insbesondere auf dem so wichtigen Gebiete

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des gesamten Wirtschaftsrechts, wird eine einheitliche Regelung erzielt, wenn das Gesetz des charakteristischen Inhalts des Rechtsverhältnisses jeweils angewendet wird. Das gleiche gilt auch für die Ausübung einer nichtkaufmännischen Berufstätigkeit, beispielsweise des Anwalts, des Arztes, des Architekten. Seine Tätigkeit charakterisiert das Rechtsverhältnis; der Klient, der Patient, Kunde zahlt, eine Tätigkeit, die das Rechtsverhältnis nicht kennzeichnet.

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Band 2: Internationales Privatrecht, Besonderer Teil

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Kapitel XV: Obligationsrecht

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II. Das gesetz der charakteristischen Leistung

1. Anknüpfung an den Schuldort der charakteristischen Leistung

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Wir knüpfen an die für die Obligation charakteristische Leistung an. Sie unterscheidet die Kategorie von jeder anderen. Umgekehrt ist sie als typische Leistung für diese Kategorie bei jedem Einzelfall der Kategorie gegeben. Derjenige, der bloß zahlt, leistet nichts Charakteristisches für das Rechtsverhältnis. Der andere übernimmt die für die Vertragsart typische Leistung. Die Sprache hat ein sehr feines Gefühl hierfür. Sie spricht von demjenigen, der „in Anspruch genommen" wird. Der Kunde nimmt den Kaufmann, der Klient den Anwalt, der Patient den Arzt, der Reisende das Transportunternehmen in Anspruch. Niemand wird auf den Gedanken kommen zu sagen, daß die Eisenbahn das Publikum oder das Fensterreinigungsinstitut, das die Scheiben eines Warenhauses säubert, dieses in Anspruch nimmt. In der deutschen Sprache drückt das Praefix „ver" im allgemeinen die maßgebliche Tätigkeit aus. Diese besteht im Veräußern (verkaufen), Verleihen, Vermitteln, Verarbeiten, Vermieten.

Die Unterstellung der Obligation unter das Gesetz der charakteristischen Leistung bringt die endgültige Konkretisierung der Anknüpfung von innen heraus. Sie enthält zugleich eine ungeheure Vereinfachung. Es kommt nicht mehr darauf an, festzustellen, wo der Gegenkontrahent dieser Leistung zufällig wohnt oder welcher Staatsangehörigkeit er ist. Es wird unerheblich, wo zufällig der Akt getätigt ist. Die Zerreißung wird vermieden, die dadurch entstanden ist, daß man die Leistung jeder Partei ihrem Recht und etwa gar noch verschiedene Leistungen derselben Partei verschiedenem Recht unterstellte. Man braucht sich nicht mehr zu bemühen, zu qualifizieren, wo der Abschlußort ist, ein bei Geschäften unter Abwesenden hoffnungsloses Experiment der Begriffsjurisprudenz. Die Suche nach den verschiedenen Erfüllungsorten und ihrer Qualifizierung wird überflüssig. Bei jeder Vertragskategorie ist die für sie typische Leistung maßgeblich. Die Beurteilung wird dadurch völlig einheitlich, gleichgültig, ob der Kunde den Bankier oder der Bankier den Kunden angerufen hat und von wo die einzelnen Mitteilungen abgegangen sind. Bei der Besprechung der einzelnen Obligationen wird aufgezeigt werden, wie einfach die Feststellung der charakteristischen Leistung und wie einfach nunmehr die Rechtsanwendung ist.

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Welches Gesetz dasjenige der charakteristischen Leistung ist, kann im Obligationenrecht sogar noch weiter konkretisiert werden. Es kann sich nicht um die Staatsangehörigkeit handeln, die für den typischen Inhalt der Obligationen bedeutungslos ist. Die Staatsangehörigkeit kann daher nur dann wichtig werden, wenn die Parteien ihrem Recht ihre Beziehungen haben wirklich unterstellen wollen und die auf Grund des Gesetzes der charakteristischen Leistung als maßgeblich erkannte Rechtsordnung diese Rechtswahl gestattet. Äußerlichkeiten wie Abschlußort und Forum können nicht das Gesetz der charakteristischen Leistung sein. Denn jede Obligation hat ihren Abschluß-, übrigens auch Erfüllungsort, und jede streitige Obligation ihr Forum. Die Obligation ist vielmehr dort innerlich verankert, wo sie eine Funktion im Dasein der Menschheit ausübt. Im Handelsrecht ist das der Ort der gewerblichen Niederlassung, deren typische Leistung in Anspruch genommen wird. Die ständige Übernahme einer derartigen Leistung, so z. B. zu transportieren, Kredit zu gewähren, zu vermitteln, ist die volkswirtschaftliche Aufgabe, die erfüllt wird. Im Zivilrecht finden wir leicht die Parallelen. Die Funktion des Berufstätigen, des Arztes, Anwalts, Architekten, konkretisiert sich da, wo er die Stätte seiner Berufsbetätigung hat. Bei dem einzeln arbeitenden Handwerker ist es die Werkstatt, wo die immer wiederkehrende, für ihn typische Leistung übernommen wird. Bei der kollektiven Tätigkeit der Arbeiter ist dagegen die Betriebsstätte der Ort, an dem die nur aus dem Zusammenspiel der Einzelnen sich ergebende Gesamtleistung übernommen und in ihren Einzelheiten durch Tarifvertrag und Arbeitsordnung geregelt ist. Soweit sich nicht aus besonderen Umständen eine andre Anknüpfung e¬gibt, wird schließlich im Zivilrecht der Wohnsitz desjenigen, der sich zur charakteristischen Leistung verpflichtet, maßgeblich sein.

Diese aus dem wirklichen Wesen der Rechtsverhältnisse gefundene und deshalb theoretisch richtige Anknüpfung bringt gleichzeitig die praktische Vereinfachung, zu einer jedermann gegenüber gleichmäßigen Rechtsanwendung zu führen und außerdem an einen allen Beteiligten von vornherein bekannten Punkt anzuknüpfen. Allen Kunden, Angestellten, Arbeitern und sonstigen Gegenkontrahenten gegenüber gilt das gleiche Recht, das der allen bekannten gewerblichen Niederlassung, Betriebsstätte, des Büros des Angehörigen eines freien Berufes. Allgemeine Geschäftsbedin-

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gungen, Arbeitsordnung, Berufsusancen werden aus diesem Recht, dem sie ihre Entstehung verdanken, ausgelegt, ohne daß Begriffe eines ihnen fremden Rechts des zufälligen Abschlußortes oder der Staatsangehörigkeit oder des Wohnsitzes des einzelnen Gegenkontrahenten in der rechtlichen Beurteilung der Beziehung aufgepfropft werden. Theoretische Gründe und praktische Vorzüge verbinden sich also. Das zeigt die Richtigkeit der Lösung. Denn eine theoretisch richtige Lösung ist auch praktisch einfach, weil sie dem Wesen des zu ordnenden Tatbestands adäquat ist.

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Referring Principles
A project of CENTRAL, University of Cologne.