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Vogenauer, Stefan, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001

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Vogenauer, Stefan, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001
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Die Auslegung von Gesetzen

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3. Einheit der Auslegungspraxis

Die dieser Arbeit vorangestellte Ansicht von Lord Wilberforce hat sich bestätigt. Bei der These vom fundamentalen Unterschied handelt es sich um einen »tired old myth«.3 Die in der rechtsvergleichenden Literatur immer wieder geäußerte These, die englischen Gerichte würden den Gesetzeszweck nicht berücksichtigen, ist schlichtweg falsch. Die Behauptung, englische Richter hielten stets unbeirrt am Wortlaut der Norm fest, mag noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts eine gewisse Berechtigung gehabt haben. Sie läßt sich jedoch schon seit Jahrzehnten nicht mehr in Einklang mit der Praxis bringen. »Englische Richter sind«, um es mit einem anderen Law Lord zu sagen, »nicht so blind, wie oft behauptet wird.4

Tatsächlich läßt sich eine fundamentale Einheit der europäischen Auslegungspraxis feststellen. Die Vorgehensweise der englischen und der kontinentalen Gerichte bei der Gesetzesauslegung ist weitgehend identisch.5 Sowohl die Interpretationskriterien als 

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auch ihre Gewichtung im Konfliktfall stimmen im großen und ganzen überein. Wie die im vorhergehenden Kapitel gegenübergestellten Entscheidungen belegen, gehen die Gemeinsamkeiten oft bis ins Detail. Gegen die These von der fundamentalen Einheit läßt sich nicht einwenden, daß in Einzelfragen auch abweichende Lösungsansätze vertreten werden. Solche Unterschiede lassen sich in gleichem Maße zwischen den kontinentalen Rechtsordnungen finden, ohne daß von einer tiefgreifenden Divergenz die Rede wäre. So ist beispielsweise seit langem unumstritten, daß in Deutschland und Frankreich ähnliche Methoden der Gesetzesauslegung angewandt werden.6 Die Gleichartigkeit wird betont, obwohl sich die französischen Gerichte anders als die deutschen nicht zum Ziel der Interpretation äußern, sie keinen Viererkanon der verschiedenen Auslegungskriterien erarbeitet haben, sie bis vor kurzem die Auslegung mehrdeutiger völkerrechtlicher Vertrage dem Außenministerium überließen, sie erst seit wenigen Jahren eine verfassungskonforme Interpretation praktizieren, sie sich nicht ausdrücklich zur teleologischen Methode bekennen, sie Gesetzesumgehungen durch ein eigenständiges Rechtsinstitut bekämpfen, sie sich gegenüber Steuerumgehungen bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts wesentlich nachsichtiger zeigten als die deutschen Gerichte, sie den Begriff der Rechtsfortbildung nicht verwenden und sie im Gegensatz zur deutschen Rechtsprechung noch immer zumindest vordergründig an der Eindeutigkeitsregel festhalten. Ebenso ist weitgehend anerkannt, daß die Auslegungsregeln des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich mit denen der Gerichte in den kontinentalen Mitgliedstaaten übereinstimmen.7 Daß der Gerichtshof im Gegensatz zu den nationalen Gerichten kaum mit der Entstehungsgeschichte argumentiert oder daß er dem Wortlaut wesentlich schwächeres und dem Normzweck erheblich stärkeres Gewicht beilegt als die Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten, scheint dabei als unwesentlicher Detailunterschied vernachlässigenswert zu sein. Insgesamt bestehen zwischen der Vorgehensweise englischer und kontinentaler Gerichte keine größeren Divergenzen als zwischen den verschiedenen kontinentalen Rechtsordnungen untereinander. Es handelt sich in beiden Fällen nur um graduelle, nicht um prinzipielle Unterschiede.8

Die These von der fundamentalen Einheit wird auch durch die Erfahrungen in den Mischrechtsordnungen gestützt. Dort hat sich keine gespaltene Auslegungsmethode herausgebildet. In den vom englischen Recht geprägten Rechtsgebieten gelten keine anderen Grundsätze als in den vom kontinentalen Recht beeinflußten Bereichen. Juristen aus Südafrika oder Quebec betonen vielmehr die Kompatibilität der methodischen Traditionen.9 Der 1808 in Kraft getretene Code civil von Louisiana enthielt eine

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Handvoll Interpretationsregeln, als deren Ursprung in den Anmerkungen sowohl auf französische als auch auf englische Auslegungsmaximen verwiesen wurde.10

Es liegt auf der Hand, der These von der fundamentalen Einheit entgegenzuhalten, sie spreche eine bloße Selbstverständlichkeit aus. Schließlich gehe es doch in jeder Rechtsordnung gleichermaßen darum, den Sinn einer vorgegebenen Gesetzesbestimmung zu ermitteln und zu entscheiden, ob sie auf einen konkreten Sachverhalt angewandt wird oder nicht.

Es ließen sich kaum andere Auslegungskriterien als Gesetzestext und Normgeschichte, Gesetzeszweck und Normzusammenhang sowie Zweckmäßigkeits-, Vernunft- und Gerechtigkeitserwägungen denken. Auch die Anzahl der Möglichkeiten, diese Elemente zu kombinieren, sie in eine Rangordnung zu bringen oder sie gegeneinander abzuwägen, sei stark beschränkt. Eine Einheit der Auslegungspraxis könne daher nicht überraschen. Verwunderlich wären eher Unterschiede. Dieser Vorwurf läßt sich nicht widerlegen. Die These von der fundamentalen Einheit formuliert eine Trivialität. Problematisch ist nur, daß diese Trivialität bisher konsequent geleugnet worden ist.

3 Lord Wilberforce, 418 HL Official Report (5th series), col. 74 (9 March 1981) (s.o. S. V).
4 Lord Slynn, [1992] Denning Law Journal 225ff., 226: »But English judges are not as blind as is sometimes suggested.«
5 Dies gilt auch für die skandinavischen Rechtsordnungen, in denen laut David/Jauffret-Spinosi, Systèmes, S. 96 weitgehend dieselben Interpretationsprinzipien gelten wie in den kontinentalen Rechten.
6 Vgl. nur David/Jauffret-Spinosi, Systèmes, S. 97-100; Ferid/Sonnenberger, Zivilrecht Bd. 1/1, S. 162, 172f., 1741f; Fikentscher, Methoden Bd. I, S. 543f.; Fromont/Rieg, Introduction, S. 215; Hübner/Constantinesco, Einführung, S.9; Witz, Droit privé, S.67.
7 Vgl. nur Kutscher, Thesen, S. I-6, I-31; Zuleeg, JZ 1994, 1ff., 5; ders., RdA 1996, 71ff., 74; Heise, Gemeinschaftsrecht, S. 158f; a. A. Hommelhoff, Auslegung, S. 29ff, 45; Deckert, JA 1994, 412ff., 418f; dies., Folgenorientierung, S. 52. Differenzierend de Witte, EC Treaty, S. 133ff, 149.
8 So bereits zur Technik der juristischen Argumentation in England und Frankreich Bell, (1995) 48 C.L.P., II, 63 ff., 80f., 89, 100, in dessen Untersuchung allerdings der Umgang mit dem Präjudizienrecht im Vordergrund steht. Vgl. auch Bell/Whittaker, Spirit, S. 1ff., 9.
9 Für Südafrika Steyn, Uitleg. S. vii-xvii und öfter; für Quebec Coté, Interpretation, S. 9. Vgl. auch zum israelischen Recht Herman, Equity, S. 17ff., 27-30. Zu Besonderheiten des schottischen Rechts vgl. o. S. 665 f.
10 Art. 13-18 des Code civil von 1808, die in den Neufassungen von 1825 und 1870 weitgehend unverändert erhalten blieben. Nach einer 1987 erfolgten Revision befinden sich diese Bestimmungen in modifizierter und ergänzter Form in Art. 9-13 des Code civil. Zu den Anmerkungen vgl. die Ausgabe Civil Code of the State of Louisiana von 1838.

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